Dienstag, 14. April 2009

Der Pilger

Zur Lektüre der Wochenzeitschrift "Die Zeit" braucht man vor allen Dingen eines und ihr Name impliziert es bereits: Zeit. Anders als bei den gleichformatigen Tageszeitungen, bei denen man Artikel überfliegen oder querlesen kann, erfordern diese in der "Zeit" die volle Aufmerksamkeit seines Lesers und von diesem dafür eine gewisse Bereitschaft zum Müßiggang.

Seit dem frühen Morgen steht die Sonne bereits auf meinem Balkon und erwärmt die Frühlingsluft angenehm, in meinem Terminplan herrscht gähnende Leere und so fand ich heute die idealen Voraussetzungen um mich den verbliebenen Teilen der letzten beiden Ausgaben der vergangenen Wochen zu widmen.

Angesprochen durch ein Foto, dass die Silhouette eines Wanderers vor einem, mit Sommerwolken gesprenkelten, blauen Himmel zeigt, lese ich das Interview mit dem Portugiesen Carlos Gil. Gil arbeitet als Angestellter einer Immobilienfirma und ist auch sonst kein Prominenter, jedoch hat er eine lukrative Idee gehabt, die sein Hobby und seine Spiritualität mit dem Wunsch verbindet anderen Menschen zu helfen. Gil ist Auftragspilger. Er nimmt die Strapazen einer Pilgerreise für Menschen auf sich, die dies entweder aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr können oder keine Zeit dazu haben. Krebskranke oder Manager gehören folglich zu seinen Auftraggebern. Man kann aus einer Menge an Pilgerorten wählen, wie zum Beispiel den weltberühmten Santiago de Compostella oder Fatima, aber auch weniger bekannte Orte, wie Muxima in Angola oder das sagenhafte, den Inkas heilige, Machu Picchu sind im Angebot. Alles eine Frage des Geldes, denn ganz billig ist das Pilgern lassen freilig nicht. 2500 Euro stellt Gil für die zweiwöchige Reise von Lissabon nach Fatima und wieder zurück in Rechnung.
So zieht es den Portugiesen mehrmals im Jahr auf Reisen zu heiligen Orten, mit den Sorgen und Bitten fremder Menschen im Gepäck. Einmal angekommen richtet er aber nicht nur fremde Wünsche aus, sondern betet auch für sich.

Über den Gedanken, dass es bei einer Pilgerreise um Selbsterfahrung und Reinigung geht und man sie daher selbst vornehmen muss, kann er sich nur wundern. Für ihn geht es einfach nur um das "Überwinden einer Strecke, an dessen Ende wir Gott um etwas bitten". Schließlich überbringt man Glückwunschkarten ja auch nicht persönlich, sondern läßt das den Briefträger erledigen.