Donnerstag, 27. November 2008

Arschgeweih verboten!

"We kindly ask you to cover your tatoos with tape, before entering the health club". Diese Aufforderung lese ich in einer Broschüre, die auf dem Schreibtisch meines Zimmers des Tokioter Hotels "New Otani" ausliegt. Ich stelle mir vor wie junge Frauen mühsam versuchen ihre platzgreifenden Tätowierungen über dem Steiß, das sogenannte "Arschgeweih", abzukleben, damit sie in die Wellnessanlage des Hotels vorgelassen werden.
Tätowierungen waren im Japan der vergangenen Zeiten der Yakuza, der "ehrenwerten Gesellschaft", vorbehalten und galten als deren Erkennungsmerkmal. Vielleicht möchte man sich mit dem Tattooverbot die Mitglieder dieser Organisation vom Leibe halten. Auch wenn Tätowierungen unter jungen Japanern einiges an Popularität gewonnen haben sind sie längst noch nicht so verbreitet wie bei ihren Altersgenossen im Westen.
Es ist keine Seltenheit, dass Menschen mit sichtbaren Tätowierungen der Zutritt zu Clubs, Restaurants und Hotels verwehrt wird.

Auch wenn einiges in Japan auf den ersten Blick an unser Leben im Westen erinnert, so sind die Unterschiede doch gewaltig. Ein Aufenthalt in der 30 Millionen Metropole Tokio ist spannend und verwirrend zugleich und jedes Mal entdecke ich hier Neues.

Noch am Tag vor meiner Abreise habe ich mir einen neuen Reiseführer von Tokio gekauft. Der alte war in die Jahre gekommen und hat, in einer Stadt, in der nichts mehr Bestand hat, als der Wandel, nur noch anachronistischen Wert.
Ich schätze die Führer der Reihe "Vis á vis", denn sie heben sich erfrischend aus dem Einerlei ihrer Konkurrenten ab. Sie legen den Focus nicht so sehr auf günstige Übernachtungen oder Restaurantempfehlungen, sondern erklären die Stadt im historisch-kulturellen Kontext, machen auf Architektur und Alltagskultur aufmerksam und geben Anstöße diese zu erleben und erlaufen. Nichts für Menschen, die nicht gerne zu Fuß unterwegs sind.
Ich habe mir für den nächsten Tag 3 Highlights vorgenommen: den Stadteil Yanaka, eine Enklave der Altstadt und der besterhaltenste Teil Tokios, Akihabara, das Elektronikviertel, in dem man die neuesten high-tech Spielereien zu günstigen Preisen erstehen kann und schließlich Obaida, den neuesten Stadtteil Tokios, auf einer künstlichen Insel gelegen, ein Vergnügungsviertel für Großstadtfans.

Um 7:00 Uhr verlasse ich bereits mein Hotel, denn mein Tagespensum ist genauso groß, wie die Entfernungen zwischen meinen Stationen. Der Zug in Richtung Innenstadt fährt immer an der Küste der Tokio-Bay entlang. In der Ferne erhebt sich der heilige Berg Fuji-san, dem der bevorstehende Winter eine Haube aus Schnee aufgesetzt hat, die der hereinbrechende Morgen nun in eine zarte Rosafärbung taucht.

Es ist Sonntag und trotz der frühen Uhrzeit sind alle Züge gut besucht, der Stadtteil Yanaka dagegen wirkt noch verschlafen. Ich gehe den von meinem Reiseführer vorgegebenen Weg entlang und fühle mich in die Zeit zurückversetzt, in der Tokio noch Edo hieß und nichts weiter als ein Provinznest war. Zahlreiche Tempel liegen fast Tür an Tür entlang der kleinen Straße. Einer gefällt mir besonders. Er nennt sich "Schneebetrachtungstempel", da er einst ein beliebter Ort dafür war, den Schneeflocken beim Fallen zuzusehen und darüber Gedichte zu verfassen. Einzig die nahen Bahngleise und das Geräusch fahrender Züge erinnert daran, dass wir das Jahr 2008 schreiben. Durch kleine Gassen und Gässchen schickt mich mein Reiseführer, vorbei an alten Holzhäuschen im japanischen Stil, durch Friedhöfe hindurch und immer wieder an Tempeln vorbei.
An einem findet eine Art Taufe statt. Sowohl Eltern als auch Neugeborene sind in traditionelle Kleider gewandet und es wird viel fotografiert. Da ich der einzige bin, der nicht zu einer Gesellschaft gehört, nimmt eine junge Frau all ihren Mut zusammen und fragt mich auf Englisch, ob ich nicht ein Foto von ihrer Familie machen könnte. Als ich ihre Kamera entgegennehme will sie sich bedanken und sagt "excuse me very much". "Thank you very much" wird sie sofort von einer Angehörigen mit scharfem Blick verbessert.
Nachdem ich das Foto gemacht habe, bedanken sich alle Fotografierten mit einer tiefen Verbeugung dafür, dass der ehrenwerte Ausländer seine Zeit für das Foto geopfert hat.
Am Ende meines Rundgangs liegt das Isestatsu, eines der ältesten und traditionsreichten Papierkunstgeschäfte Japans. Eine hübsche Auswahl an Fächern, Drucken, Puppen, Kämmen und Aufbewahrungsschachteln wird hier feilgeboten. Ich zeige einer der Verkäuferinnnen das Foto ihres Geschäfts in meinem Reiseführer und aus Freude darüber schenkt sie mir eine Karte, die eine Frau im Kimono zeigt.

Weiter geht es nach Akihabara, nur einige Metrostationen entfernt und doch eine andere Welt. Riesige aufdringliche Leuchtreklamen prangen an den Fassaden, es ist grell und laut. Hier geht man hin, wenn man sich mit den neuesten elektronischen Gadgets eindecken möchte. Von Kameras über Spielkonsolen bis zu Computern und DVD's, was es hier nicht gibt, gibt's nicht!
Einer der Läden, die ich betrete, offeriert im Untergeschoß "Spielzeug für Erwachsene". Offensichtlich ist das die "Schmuddelecke" des Ladens und das weckt mein Interesse. Zwischen den üblichen Sexspielzeugen und Vibratoren, fällt mir ein Gerät, schon alleine durch seine Größe, auf. Es handelt sich um einen elektrisch betriebenen Hocker, den man auch aus den, in Asien überaus beliebten, Läden für Massageräte kennt. Er simuliert mit seinen Auf-, Ab- und Seitwärtsbewebungen ein Rodeopferd. Nur das sich bei diesem Gerät zusätzlich ein Silikondildo auf dessen Sitzfläche erhebt. Auf einem Monitor darüber erklärt eine junge Frau, nur mit Höschen bekleidet, wie das Gerät zu benutzen sei. Am Ende ihrer Erklärung entledigt sie sich auch noch ihres Höschens und nimmt nun auf dem Gerät platz um es zu demonstrieren.
Fast traue ich meinen Augen nicht! Soetwas hätte ich in einem Land, in dem selbst ein öffentlicher Kuss verpöhnt ist, nicht erwartet.

Mittlerweile ist es 14 Uhr und es wird höchste Zeit, zu der letzten Station meines Ausflugs aufzubrechen. Obaida ist mit einer Monorailbahn zu erreichen, die computerbetrieben wird und somit ohne Fahrer auskommt. Wie von Geisterhand bewegt, fahren wir über die Rainbow-Bridge und kommen nun in einen Stadtteil, der durch seine experimentelle, postmoderne Architektur bekannt geworden ist. Hier, so scheint es, ist alles erlaubt was moderne Baumaterialien und Statik möglich machen, hier stehen wahre Wunderwerke moderner Architektur: Das Tokio Big Sight besteht aus vier Pyramiden, die mit ihrer Spitze auf Säulen stehen und deren Basis sich treffend, eine Plattform und den oberen Abschluß bilden.
Das Fuji TV Building ist derart komplex, dass es schwer fällt, es mit Worten zu beschreiben. Eine luftige Konstruktion, deren Stockwerke aus einem Gitternetz bestehen, jeweils mit Verbindungen nach oben, unten und seitlich. Am oberten Stockwerk befindet sich eine Titankugel, die gleichsam über dem ganzen zu schweben scheint.
Der Einkaufskomplex "Venus Fort" imitiert eine italienische Stadt. Auf Fenster wurde bei der Konstruktion, um einer perfekten Illusion willen, bewußt verzichtet. Man schreitet durch kopfsteingepflasterte Straßen und über Piazzas, an italienischen Fassaden entlang, in denen sich Geschäfte und Cafés befinden. Der künstliche Himmel ist so perfekt beleuchtet, dass er fast real erscheint. Mit Einsetzen der Dunkelheit, dämmert es auch in der Venus Fort Mall, der Himmel verdunkelt sich immer mehr, die Staßenbeleuchtung wird eingeschaltet und das Vogelgezwitscher aus den unsichtbaren Lautsprechern verstummt langsam. Ein Einkauf hier ist fast ein kleiner Kurzurlaub in Italien - aber nur fast!

Einer der Atraktionen von Obaida ist das Mega Web, ein ultramoderner Showroom des Automobilherstellers Toyota. Hier kann man nicht nur die gesammte Modellpalette des Konzerns besichtigen und ausprobieren sondern sich auch über neue Technologien und andere Innovationen informieren.
Ein Teil der Ausstellung ist dem Thema Behinderungen gewidmet und man kann verschiedene Modelle besichtigen, die für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen geschaffen wurden. Bei einem schwenkt der Beifahrersitz zur Seite, schiebt sich aus der Tür, wobei er Rollen entfaltet, sich vom Fahrzeug löst und so zum Rollstuhl mutiert.
Ein anderes System, vergleichbar mit dem Antikolisionssystem moderner Verkehrsflugzeuge, wird in einer anderen Abteilung vorgestellt. Ein Sensor tastet die Straße nach Fremdkörpern ab und bremst, sollte er einen solchen findet, das Fahrzeug automatisch ab. Testen kann jeder Besucher das ganze an einem Fahrsimulator, der eine Situation bei schlechter Sicht, also eine Fahrt bei Nebel und Nacht, nachstellt. Plötzlich tauchen Personen oder liegengebliebene Autos auf und man muss versuchen einen Unfall zu verhindern. Die Besucher können die sehr realistische Simulation mit oder ohne das System testen.

Während ich noch auf eine Fahrt im Fahrsimulator warte, höre ich Trompetenmusik. Ich erinnere mich am Eingang einen menschengroßen Roboter gesehen zu haben, der eine Trompete in der Hand hielt. Ich gehe in die Richtung aus der die Musik kommt und sehe tatsächlich bald den Roboter, wie er Weihnachtslieder auf der Trompete spielt und dazu tanzt. Hier, so scheint es, hat die Zukunft bereits begonnen.